Was geschieht beim Kochen? Bis vor einigen Jahrzehnten hat diese Frage noch überhaupt niemand gestellt. Kochen galt als erlernbares Handwerk als Kulturtechnik, bestimmt durch klar umgrenztes Wissen und über Generationen überlieferte Traditionen. Kochen sei maximal eine Kunst - aber eine Wissenschaft?
Sicherlich wissen wir heute dass die Bedeutung der Kochkunst vor allem in den chemischen Reaktionen liegt: Gerinnende Eiweiße, gelatinierte Bindegewebe, verflüssigte Fette, verkleisterte Stärke, freigesetzte Mineralstoffe und gebildete Geschmacksstoffe bewirkten eine enorme Ausweitung des Nahrungsangebotes. Schwerverdaulich oder sogar ungenießbare Pflanzen oder Tiere können durch diese biochemischen Prozesse genießbar gemacht werden. Die sterilisierende und konservierende Wirkung durch kochen ist uns allgemein bekannt. Die Lebensmittelindustrie mit Ihren Geschmacksdesignern, E-Nummern und resultierenden Convenience Food Produkten machen schon lange Großmutters Küche Konkurrenz. Doch das Wissen über die biochemischen und physikalisch-chemischen Prozesse gehörte in die Labore der Fast-Food Produzenten. Seit einigen Jahren ist das anders. Die Molekularküche oder auch Avant Gard Küche fasziniert nicht nur Wissenschaftler und Profiköche, sondern auch Hobbyköche und Feinschmecker.
Restaurants die auf molekulare Küche spezialisiert sind, sind schon Monate im Voraus ausgebucht, Angebote von Molekularen Kochkursen spriessen wie Pilze aus dem Boden und Online Shops buhlen um molekular faszinierte Kunden, die Hilfsmittel oder einzelne Zutaten zum nachmachen kaufen wollen.
Der Begriff Molekulargastronomie wurde schon 1990 von den französischen Physiko-Chemikern Hervé This und Nicholas Kurti geprägt. Sie erforschen am Collège de France in Paris die molekularen Grundlagen, die physikalischen Prozesse und chemischen Reaktionen der Kochkunst. Von Kurti stammt der oft zitierte Satz: "Es ist absurd, dass wir über die Temperatur im Zentrum der Sonne mehr wissen als über jene im Inneren eines Soufflés". Und so interessiert sie weniger die Frage wann die richtige Garzeit für Fleisch und Fisch erreicht ist oder wie lange ein Soufflé im Ofen bleiben muss, sondern viel eher warum das alles passiert. Wie verhalten sich die Eiweißstrukturen in Lebensmitteln durch Temperaturveränderungen, mechanische Einwirkungen, durch oder durch Verwendung von Zusatzstoffen wie Alginate? Es geht darum althergebrachte Rezepte zu erklären, sie womöglich zu verbessern, und mit den dabei gewonnenen Erkenntnissen neue Rezepte zu kreieren.
Neue Rezepte kreiert als bekanntester Vorreiter der Molekularküche der spanische Koch Ferran Adrià in seinem Restaurant El Bulli nördlich von Barcelona. Nur etwa 10% aller Gäste haben derzeit das Glück noch einen heißbegehrten Tisch in dem Restaurant der Molekularen Küche buchen zu können. Mit bis zu 30 Gängen fasziniert Adrià seine Gäste. Denn wo bekommt man schon kleine Fois Gras Blöcke aus heisser Ente mit Birnen Kaviar, Sardinen mit Johannisbeer-Eukalyptus Sauce und dazu vielleicht einen mit Stickstoffangereicherten Nitro Caipirinha mit Estragon Konzentrat und als Dessert Kaviar aus Melonen? -Zum Beispiel im Restaurant des gleichnamigen Drei-Sterne Kochs Juan Amador in Langen. Denn auch in Deutschland hat sich inzwischen der naturwissenschaftliche Ansatz zu einem neuartigem Stil der Haute Cousine entwickelt. Köche wie Heston Blumenthal, Grant Achatz, Marc Veyrat, Martin Berasategui, Juan Arzak, Luiz Aduriz, Quique Dacosta und Homaru Cantu sind nur wenige der Spitzenköche die sich ausschliesslich dem neuen Trend der Molekularküche widmen.